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Fragment_2

Herzdame

 

Trübes Licht fällt in den Aufwachraum. Die Wirkung des Propofols ist noch nicht zur Gänze abgeklungen. In diesem Zustand, zwischen den Welten, konfiguriert sich vor dem geistigen Auge der Patientin Hirtbergse-mailisches Orakel:

 

„Vor ihnen liegt das Abenteuer allein und autonom abzuwarten und genau wahrzunehmen, was ist, statt sofort Antworten oder Ergebnisse parat haben zu wollen. Stellen sie sich der Herausforderung, Geduldzu entwickeln und die Fähigkeit, Ambivalenz zu ertragen: Zerrissenheit, Ungewissheit, Zweifel, das ganze Tableau unbequemer, ungeliebter Gefühle. Jetzt, wo sie zur Ruhe kommen könnten, ertragen sie es nicht, jene Stille zu hören, die ihnen all diese Themen vor Augen führt. Sie ertragen ihr begrenztes Glückund ihre sich stabilisierende Situation nicht. Natürlich trägt der Boden nicht, wenn sie ihn mit einem Presslufthammer bearbeiten. Wenn sie einfach nur ihre Sache machen würden, mit Gelassenheit... Punkt. Und ihren Rufus mit seinen Ecken nehmen würden, wie er sie, mit ihren winzigen Macken. Sie würden, glaube ich, Verlustängste bekommen, weil das Leben nicht endlos ist, sie etwas erreicht haben und noch mehr erreichen können. Trotzdem läuft alles auf ein Ende hinaus. Sie nehmen quasi alles auf einmal vorweg. Sie sitzen auf dem Boden, haben ein hübsches Türmchen gebaut, dass noch ein wenig wackelt, aber sie könnten ein paar weitere Gebäude daneben stellen. Stattdessen wollen sie alles umhauen.Doch sie können nicht einfach neu anfangen. Was sie zerstören, bleibt zerstört.“

 

Schon wenige Tage nach der Implantation ihres brandneuen Kunstherzens ist die Frau wieder einigermaßen beisammen, flaniert im Park der Klinik, genießt ihren Cappuccino und erkennt ihn sofort. In der Cafeteria, direkt am Tisch neben ihrem, tippt er etwas in sein Smartphone. Hirtberg trägt den grauenHoodie, in dem sie ihn wenige Minuten vor dem ersten probatorischen Gespräch gesehen hat. Sommerregen, ein heftiger Schauer. Er zieht sich die Kapuze mit der rechten Hand über die Stirn, unterm linken Arm eine Art Herrenmappe, überquert die Straße im leichten Laufschritt.

 

Die Herzpatientin fragt, ob sie sich zu ihm an den Tisch setzen darf. Als er sie erkennt, zögert er nicht, sie mit einer Geste einzuladen. Sie fühlt sich wahrgenommen, verstanden, gleichzeitig autonom… und sofort ist da wieder diese Ambivalenz, die sich aus der Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Regungen, darunter das ganze Tableau unbequemer, ungeliebter Gefühle ergibt. Im Grunde nicht anders als vor einigen Jahren, an diesem regnerischen Tag im August.

 

„Ja, Hirtberg. Genau das ist geschehen... nichts mehr da, kein Job, kein Geld, keine Beziehung, keine Wohnung… Lebensarchitektur bombardiert, der Boden… trug schon vor dem finalen Bombardement nicht mehr. Zwei Jahrzehnte lang geleistet, geschafft und falsch gemacht“, beginnt die Frau unvermittelt ein Gespräch. Er steigt ein.

„Was genau war falsch? Welche Konsequenzen ziehen sie daraus?“

In der Hoffnung, es schaffe Entlastung, ihre Kardinalfehler zu identifizieren, sie in ihrer Unabänderlichkeit zu akzeptieren und mit dem Hadern aufzuhören hat sie sich auf die Suche begeben. Vor dem Hintergrund der vorherigen Behandlung durch Hirtberg gelang es, am anderen Ende von Deutschland klar zu erkennen, wo genau der Hase im biographischen Pfeffer liegt. Heraus kam eine Liste von Fehlern, die es endlich sich selbst zu verzeihen gilt. Statt Hirtberg diese zu nennen, nuschelt die Frau:

„Hätte ich es zum jeweiligen Zeitpunkt der falschen Entscheidung besser gewusst, wäre mein Handeln möglicherweise anders ausgefallen. Das haben wir doch alles in der Behandlung durchgekaut...“

„Haben wir das?“ Er zieht die Augenbrauen hoch, schaut die Frau überrascht an.

„Hirtberg, nach den Jahren auf der cremefarbenen Couch habe ich weitergemacht. Ich musste das tun, der Ausgangspunkt war die brachiale Zerstörung des Gewesenen.“

„Was meinen sie mit Zerstörung? Bitte kein langes Referat. Versuchen sie, in einigen Worten darzustellen, was nach der Behandlung geschehen ist.“In einer eleganten Bewegung steht auf, schreitet zu einem der bodentiefen Fenster der Cafeteria, blickt hinaus, als sei dort draußen ihre Antwort zu erwarten. Nach einer Minute des Verharrens dreht er sich um:

„Beschreiben sie nur Fakten. Kein Urteil, kein Vergleich, keine Wertung, ...“ wieder wendet er sich der Aussicht in den Park zu. „... nur Fakten, Frau Thieme, schaffen sie das? Wir haben uns lange nicht gesehen, vielleicht haben sie sich ja in die Richtung verändert, dass sie auf Auslegung, Details oder Rechtfertigungen verzichten können.“

Liegt ein ungeduldiger Zug um seinen Mund? Hirtberg war nie ungeduldig. Warum sollte er es jetzt sein?

„Gut, ich will es versuchen“, hebt die Frau bedeutungsschwanger an, um sofort wie erstickt zu verstummen. Für einen Augenblick ist sie zurück in den zweieinhalb Jahren zwischen dem alten und dem neuen Leben.

„Ein guter Abschied? Ding der Unmöglichkeit! Suchtverschiebung, Benzos und Alkohol, qualifizierte Entwöhnung von elf auf zwölf, Rückfall, Betrug, Rausschmiss, Trennung, Entgiftungen, eine nach der anderen, Kündigung, Fleppe weg, keine Perspektive, kein Motiv zum Leben. Fort von dem was ist, so schnell, so weit wie möglich. Peter vermittelt mich in eine Einrichtung, geschützter Raum auf Zeit.

„Kurze Verständnisfrage: Betrug bedeutet, sie hatten einen Liebhaber? Und Rausschmiss bedeutet, ihr Mann hat sie der Wohnung verwiesen?“

„Ja. Keine Details.“ Die Frau atmet tief durch, das Schlimmste ist geschafft. „Das Haus mit seinem anthroposophisch motivierten Ansatz, liegt dreißig Kilometer nordöstlich von Berlin. Bei Einbruch derDunkelheit erreichen meine Mondgöttin und ich das Ziel. Gerhard und Dietlinde haben uns gut sechshundert Autobahnkilometer dorthin gefahren. Allein zu leben traut mit niemand mehr zu.“

Knapper geht es wirklich nicht. Die Frau betet die Stationen herunter wie auswendig gelernt. Die Erinnerungen wiegen schwer und formieren sich in plastischen Bildern. Kaum dass sie sich gefangen hat, redet sie weiter in der Hoffnung, Hirtberg möge niemals wirklich aus ihrem Leben verschwinden.

„Ein radikaler Bruch“. Nach dieser knappen Feststellung gibt er gibt ihr den Raum, den sie braucht. „Erzählen sie weiter.“

 

„Teil eins: Ikarus. Teil zwei: Phönix.“ Die Queen der Zwischenzeiligkeit weiss, dass Hirtberg ihr Bild zu deuten versteht.

„Teil zwei beginnt mit meiner Ankunft auf dem Hof im Brandenburgischen. War früher eine LPG. Vor mir liegt das Abenteuer allein und autonom abzuwarten und genau wahrzunehmen, was ist. Statt Antworten oder Ergebnisse hat das Schicksal Stolpersteine, Hindernisse, Versuchungen und Rückschritte parat.

Hirtberg folgt mit gleichschwebender Aufmerksamkeit, bestellt noch einen Cappuccino für die Frau, für sich selbst einen Espresso. Seiner Ermunterung, den Weg aus der Asche in wenigen Worten zu beschreiben, folgt sie nur zu gern.

„Nichts leichter als das“, antwortet sie, „wo ich schon einmal dabei bin. Vorab: Zwei Jahre lang stand Uli Fischer, Geschäftsführer dieses Anthroladens, mir als Bezugstherapeut zur Seite…“ Die Frau bricht ab, wirkt verletzt, nach innen gekehrt.

„Was geht jetzt in ihnen vor? Wie fühlt sich die Erinnerung an?

„Aus den Erinnerungen quillt die Sentimentalität wie das Serum aus dem Lanzenstich ...“, sagt die Herzdame, die sehr genau zwischen Traurigkeit und Sentimentalität differenziert. „… wie es sich jetzt anfühlt? Hirtberg, Abschied - das kann ich überhaupt nicht.“

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Annika Plüsch (Sonntag, 11 Oktober 2020 16:17)

    Kannst Du die Geschichte bitte weitererzählen? Du machst es sehr spannend mit den Fragmenten. Liebe Grüße aus dem Schwarzwald!
    Annika